Fritz Jacobi
Eröffnungsrede zur Ausstellung
René Graetz (1908 – 1974)
Skulpturen, Zeichnungen, Siebdrucke
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Lieber Patrick Graetz!
Es ist schon anrührend, wenn Elizabeth Shaw, diese wunderbare
irische Zeichnerin und zweite Frau von René Graetz, ihn ihren
Erinnerungen an ihren Mann schreibt: »Wenn ich an René denke,
denke ich an sein lebhaftes Temperament, seinen Charme, seinen
Großmut – und vor allem an die vielen Konflikte, an denen er
beteiligt war und die in ihm waren. (?) Den großen Konflikten
unserer Zeit versuchte er Ausdruck zu geben, mal episch, mal
lyrisch. Aber über seine Kunst laß ich Andere reden. Er war
öfters über mich verärgert, weil ich, wenn er mir eine Arbeit
zeigte, nur sagte, daß ich sie schön finde. ?Kannst Du nicht
anderes sagen?, brummte er. Ich möchte nur sagen, daß ich es
immer noch schön finde.«
Allein aus dieser liebevollen Charakterisierung heraus glaubt
man zu spüren, von welcher Unrast der 1908 in Berlin geborene
und 1974 in Graal-Müritz verstorbene Bildhauer und Graphiker
René Graetz zeitlebens getrieben wurde. Das gilt nicht nur für
das bewegte Leben des Sohnes eines Russen deutscher Abstammung
und einer Italienerin – Berlin, Genf, lange Jahre in Kapstadt in
Südafrika, seit 1939 in London, bald darauf in der Internierung
in Kanada und dann seit 1946 wieder Berlin, im Ostteil der
Stadt, sind die Hauptstationen -, sondern es bezieht sich vor
allem auf seine Suche nach einem gültigen künstlerischen
Ausdruck, in dem er sowohl seine Botschaft des Humanen als auch
seine künstlerische Gestaltungskraft in Einklang bringen konnte.
Im Rückblick auf einen solchen Lebens- und Schaffensverlauf
mutet es immer wieder schmerzlich an, wie der von
gesellschaftlichen Utopien erfüllte Künstler von den
Verhältnissen, die er selbst gesucht hatte und in deren Dienst
er sich bewusst stellte, wiederholt zurückgestutzt und auf
Ebenen zurückgeworfen wurde, die seinem künstlerischen Potential
nicht entsprachen. Es liegt schon Tragik in solchen Biographien,
wie etwa auch der seines Mitstreiters Horst Strempel, deren
Impetus in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren der
Gestaltung einer neuen Zeit, auch einem neuen Menschenbild galt,
deren Wandbilder aber – und Graetz war daran wesentlich
beteiligt – heftigste Diskussionen auslösten oder in der Zeit
der so genannten »Formalismus-Debatte« wieder entfernt wurden -
wie etwa mit dem Wandbild in der Schalterhalle des Berliner
Bahnhofs Friedrichstraße geschehen.
So konnten auch die in Graetz selbst vorhandenen
widersprüchlichen Intentionen nicht so ausgetragen werden, wie
es gerade für sein Naturell wichtig gewesen wäre. Denn die
Unruhe in ihm selbst, seine sympathische Naivität und sein mehr
geahntes Empfinden der ihm möglichen Ausdrucksformen hätten
einen entsprechenden Freiraum gebraucht, um wirklich erprobt
werden zu können. So setzte er sich auch selbst Grenzen, die er
andererseits immer wieder zu durchbrechen suchte. Man fühlt
förmlich die befreiende Wirkung, die mit der Gestaltung der »Upright
Figures« seit 1970 verbunden war, als er im März 1970 in sein
Tagebuch schrieb:
»März 1970 – fange von vorn an – mein Formgefühl ist verbraucht
– ich muß nach neuen Formbeziehungen suchen. Ist die menschliche
Gestalt das einzige Medium, in der Skulptur neue Ideen
auszudrücken? Mit Sicherheit nicht. Ich muß innehalten und
nachdenken – nachdenken über alles, was ich in den letzten
zwanzig Jahren gemacht habe. In vielerlei Hinsicht habe ich 20
Jahre meines Lebens verloren. Ich werde erst einmal einige
einfache Übungen zu (neuen) Formbeziehungen machen, menschliche
(Körper)formen nutzend, oder solche, die hieraus abgeleitet
sind, um hieraus eine neue Formensprache zu entwickeln.«
Und etwas später notierte er: »Es ist erstaunlich, wie (jetzt)
eine neue, weitaus plastischere Formbeziehung entstanden ist.
Die Formen selbst sind (auch) viel eigenständiger. Ich bin –
solange ich mich erinnern kann – nicht mehr so glücklich und
zufrieden gewesen.«
Und so wird diese späte Phase seines Schaffens zu einem
Höhepunkt seiner Arbeit, weil er sich aus Bindungen entlässt,
die ihm vorher von außen und innen entgegenstanden und eine
wirklich freie Formentfaltung seiner Formimagination nicht
genügend ermöglichten. Andererseits ist dieser expressive
Gestaltungstrieb, der ihm ganz eigentlich entsprach, auch in
seinem vorangegangenen Werk als deutliche Spurenlegung
unverkennbar immer mit im Spiel – die hier ausgestellten zwei
Zeichnungen von 1940 lassen das überzeugend erkennen.
Trotz alledem – so könnte man sagen – hat Graetz ein Werk
geschaffen, das in seinen besten Leistungen zu einem wichtigen
Bestandteil deutscher Kunst in der 2. Hälfte des 20.
Jahrhunderts geworden ist, was diese Ausstellung hier in schöner
Klarheit auch belegt. Besonders seine abstrahierten Skulpturen,
aber auch ein Teil seiner gestrafften Figuren, viele Blätter
seines druckgraphischen Werkes und vor allem eine ganze Reihe
von Zeichnungen vermitteln die Kraft und Intensität einer
lebendigen Zeichengebung.
Denn Graetz lotet die Spanne zwischen leiblich-anschaulicher
Erfahrung und der Bändigung dieser bewegten Vitalität in
vergleichsweise einfachen Symbolverdichtungen mit einer
gefestigt-vibrierenden Formensprache voll aus. René Graetz, der
einst von den Skulpturen Brancusis fasziniert war, ist ein
Künstler, der das Gesehene, Erlebte, Gefühlte durch Verwandlung
hindurch transparent machen wollte – der freie Umgang mit dem
Organischen oder Vegetativen, zuweilen auch mit dem Kosmischen,
ermöglichte ihm die angestrebte phantasievolle Anreicherung und
die zurückführende Komprimierung, die seinen Gestaltformationen
einen eigenen Ausdruck, eine neue Körperlichkeit und eine andere
räumliche Präsenz verleihen.
Es werden Formgebilde geschaffen, die in ihrer potentiellen
Verfremdung und zeichenhaften Verknappung elementare Bewegungen
deutlich werden lassen – Bewegungen, die oft von einem
dramatischen Impuls inspiriert sind oder von Kräften des
Wachstums und damit des Werdens und Entfaltens erfüllt werden.
Graetz bündelt Energien. Und in dem er diese Energien skulptural
einbindet und zugleich linear ausfluchten lässt, treibt er seine
Gestaltfindungen zu Kontrast und Synthese von geschlossener und
offener Form, von plastischen und graphischen Momenten, aber
auch von abstrahierter und gegenständlicher Signalwirkung, was
seinen Arbeiten ihre ganz eigene Spannung gibt.
Und das gilt sowohl für seine Plastiken als auch für seine
Flächenarbeiten. Graetz, der zweifellos in Picasso und Henry
Moore, den er in England persönlich kennen gelernt hatte, seine
entscheidenden Bezugspunkte sah, sucht das eine im anderen, das
Körperliche in der Flächenverzweigung und die linearen Führungen
in der leiblichen Ausprägung - immer von der Dynamik des
Formwollens bestimmt.
Lassen Sie mich schließen mit zwei Zitaten von René Graetz, in
denen er mit der Bedeutung des Expressionismus letztlich auch
seine eigenen Wurzeln anspricht, die er zugleich auch als eine
Haltung begriff. Schon 1957 schrieb er in der Zeitschrift
»Bildende Kunst« – und dazu gehörte seinerzeit durchaus Courage:
»Ob man zurückgeht bis zu Grünewald und Cranach oder bis zu
Beckmann und Kokoschka (ich bitte den österreichischen
Kunstkritiker um Entschuldigung), eines einigt die deutsche
Kunst: der Expressionismus. Wir müssen lernen, unserer großen
Tradition zu vertrauen. Wieviel weiter wären wir heute in der
bildenden Kunst, wären wir mutiger gewesen, hätten wir mehr im
Geiste der Unabhängigkeit gearbeitet, unserer eigenen Tradition,
dem Expressionismus folgend, der unsere nationale Form des
Realismus ist.«
Und Jahre später hat er einmal formuliert: »Eine Form muß innere
Spannung haben. Spannung ist nicht nur eine physische
Eigenschaft – viel hängt vom geistigen Standpunkt ab.«
Schönen Dank! |