Petra Hornung zu Seltmann »Arbeiten auf Papier und in Beton«,
16.10.2008
Sehr geehrte Gäste, liebe Kerstin Seltmann, lieber Karger,
es war für die Zeichnungen von Kerstin Seltmann immer mit einem
Wagnis verbunden, sich in der Nähe von den großen, mitunter
schwerleibigen und farbintensiven Gemälden von ihr aufzuhalten.
Denn obwohl sich die Zeichnungen innerhalb ihres jeweiligen
Refugiums durchaus behaupten konnten, leben durften, mussten sie
naturgemäß am Ende zu kurz kommen.
Nicht, dass die Wirkung der Seltmann?schen Bild-Stücke, in ihrer
beunruhigend schönen und dennoch unversehens in Melancholie
wandelnder Dramatik – je aus meiner Seele geraten könnten – So
galt meine – gar nicht mal heimliche - so aber doch unerfüllte
Liebe - gerade diesen unglaublich aufregenden und
geheimnisvollen Gebilden kleineren Formats. Und ich werde jetzt
etwas tun, was ich noch nie im Leben getan habe. Ich werde mich
selbst zitieren aus meinem Text zu der wunderbar,
spannungsreichen Ausstellung »gegenüber« mit Arbeiten von
Kerstin Seltmann und Michael Schönholz, in der Galerie am
Wasserturm, damals, ich glaube 2003. Zitat: »Die Räume sind
gefangen in jener schwerwiegenden Atmosphäre, die eine Andacht
anbahnt, der man schlicht ausgeliefert ist« – »blau scheint auf;
ist Nacht oder Ozean, Himmel oder Abgrund. Aus weiter Ferne
schon – bereits am Eingang dieser Ausstellung ist die Berührung
vom Bilde aus zu spüren. Sie steigert sich zu einer Anziehung,
der man unbedingt folgen möchte. Das Schöne ist, dass man sich
die Zeit für den Weg dorthin nimmt: Vorbei (vorbei!) an
Zeichnungen von Kerstin Seltmann, die in ihrer Kostbarkeit ein
Reichtum verschwenden den es eigentlich nur in unseren Träumen
gibt. Kleine Malereien sind das, die ihre Dimensionen aus Spaß
minimiert haben.«
Genau so! In diesem Befinden fühle ich mich bestärkt. Und ich
bemerke zunächst mental – und zunehmend deutlicher – so etwas
wie eine existentielle Veränderung in der Form, in der
Formulierung der Bilder von Kerstin Seltmann. Das sieht völlig
anders aus als früher. Was hat es damit auf sich?
Als erstes: die Prioritäten haben sich geändert und führen
schlicht zu einer neuen Präsenz. Eine Positionierung ohne
Kalkül; einfach so passiert, aus Sehnsucht, Lebensfreude,
Gegenwehr. Man braucht das nicht benennen. In dieser Ausstellung
jedenfalls weht ein anderer Wind. Du kannst freier atmen und der
Akt der Unterwerfung ist quasi ausgeschlossen. Die Dinge
scheinen offener und zugleich konkreter in ihrer Lesbarkeit. Das
wird noch deutlicher in dem exzellenten Katalog übrigens der
taufrisch zur Ausstellung erschienen ist und auch käuflich zu
erwerben ist.
Nichts aus einem Guss; nichts aus einem Munde – und ein für
allemal wahr und gültig: Mischformen, Zwischenwelten,
Zwischenreiche, Horizonte. Die Aufforderung zum Tanz
funktioniert und ist tatsächlich auch so gemeint. Du darfst
beruhigt irritiert sein über die Bienen an der Säule, die Gänse
aus dem Boden, deren seltsamer Anblick zunächst ungläubig fragen
lässt: was ist denn das? Das sind herrliche Ambivalenzen, wie
die Wesen selbst und das Leben sowieso. So schön so eine Biene
von Nahem auch ist; das pelzige Hinterteil gelb schwarz, die
filigranen Flügel, nützliche, fleißige Arbeit leisten sie
ohnehin? Aber man ist besser auf der Hut, bevor sie Einem den
gefürchteten schmerzlichen Stich zufügen.
Über die Gänse übrigens lässt sich nichts Freundlicheres sagen,
als das, was Sie hier sehen: Sie, die Gänse, können ?gottlob?
nicht von der Stelle, halten ihren Schnabel, - und die Köpfchen
schön in die Höhe. Wenn sie nämlich dieselben in die Waagerechte
lenkten, eiligen Gänsefußes sich uns näherten, hackt der schöne
orangefarbene Schnabel zu, dreht das gepackte und auf diese
Weise fest im Schnabelgriff befindliche Wadenfleisch zumeist
noch ein wenig herum, nach links oder rechts gemeinerweise. Und
der Mensch, angereichert durch diese nachhaltige Erfahrung, wird
demnächst lieber das Weite suchen beim Anblick einer solchen
Schar. Mir selbst wurde auf diese Weise ein gehöriger Respekt
vor einem gewissen Ganter namens Hans eingeflößt. Nur nebenbei –
eine geniale plastische Lösung; schön befremdlich und dennoch
stimmig nach allen Regeln der Kunst: Einzeln und als Ensemble
auch.
Aber im Grunde ist es schon so, die Kreatürlichkeit, die Tiere
und die Pflanzen, hat die Künstlerin schon immer interessiert.
Aber, sie waren nicht so direkt gemeint, waren Anlass zum Tun:
Eine parallele Welt, vor oder neben oder hinter der eigenen. –
Die großen Bilder. Tote Schwäne, überfahrene Frösche, Herzen,
die Konturen umkreist, verschichtet, umschlossen, verschlossen.
Indiz für allgemeinere Befindlichkeiten – eine Naturmetaphorik,
die zuvorderst an den eigenen Gemütszustand gebunden war und
einen weiten, mitunter zu weiten Raum für Interpretationen bot,
wie sie die Künstlerin so nicht mehr möchte. Irgendwie, so
scheint es, will Kerstin Seltmann die Zusammenhänge konkreter
haben, näher, persönlicher vielleicht. Die Möglichkeit nutzen,
über das zu erzählen, was sie kennt, genau beobachtet hat, ihr
lieb geworden ist und am Herzen liegt, – als eine Art Einsicht,
mittendrin. Die Anrührung, die feine Empfindung. Die Häsin, die
sich eindeutig als respektable Person zu erkennen gibt – obwohl
als Vogel geboren. Und darüber hinaus ist es doch so, Seltmann
interessiert es durchaus, ob es für die Wesen, ?den gestürzten
Esel? zum Beispiel noch eine Chance zum Leben in dieser Welt
gibt. – Dies durchaus stellvertretend. Die Oberflächen sind
beredt, lassen mitleiden, anfühlen mit den Augen. Die gefundene
Instabilität gerade in den Skulpturen ist in sich stabil, ein
Gestaltungsprinzip, künstlerisches Maß.
Und es ist diese Einmaligkeit, diese so sehr faszinierende
Umsetzung von Realität, die sie mit hinein nimmt in ihre
Bildräume, direkt in die Landschaft zum Beispiel. Mitten drin
thront das Katertier, im Grunde unsichtbar aber eindeutig wahr
zu nehmen, wenn man den Duktus spürt. Unten im Bilde, im Nebel
die Rehe, als graphische Bildfindungen, Striche fast nur. Das
sind keine Erfindungen! Sie sehen so aus in Wirklichkeit bei den
Spaziergängen mit ihrem Hund Braque am Morgen, an einem
Wintertag. Doch, sie kommt aus ohne jedes Mittel der
Illusionierung von Bildräumlichkeiten. Die Fläche hat genug Raum
für den artifiziellen Zauber. Nichts ist bemüht. Die Dinge
scheinen sich wie von selbst einzustellen, immer weiter. Der
Fundus schier unendlich. In ihrer Vielgestaltigkeit brechen die
Impulse einander, und dadurch bleibt die Balance immer in jener
Gefährdung, die eine gute Spannung hält.
Und doch, es ist so etwas wie Gelassenheit, Gelöstheit, die über
all dem liegt und fast heiter stimmt; lustig nicht. Denn immer
schwingt Melancholie mit und Sinnlichkeit, mischen sich mitunter
ein, in die ohne Zweifel komischen Züge ihrer Kunst und
formulieren letztlich eine Stimmung, von der ich nie genug
bekommen kann. Eine Stimmung, die ich immer schon in ihren
Zeichnungen, den Bildern auf Papier, gefunden habe. Eine schöne
Renaissance ist das hier. Aus der Dunkelheit endlich ans Licht:
Die Tagebuchmysterien der feinsten Art – unendliche Geschichten
und Poesie wechseln sich ab mit Notizen, Einfällen, Anfällen.
Gefunden, aufgehoben, erhöht oder wieder verworfen. Eingesponnen
mit tausendfachen Linien - ?der italienischen Stiefel?. So wie
er im Blatt steht, hat er doch alle Freiheit sonst was zu sein;
zart wie aus feinstem Elfenlockenhaar der Strich – Ein anderes
Mal die unumwunden klare Kontur, kräftig, verschwiegen oder
schwelgerisch. Nuancenreich die Farbe oder in tiefster
Eigenwertigkeit gefeiert. Eine Leichtigkeit des Seins, der man
unbedingt trauen möchte; eine Frische, die ihre Jugendlichkeit
nicht ans Alter abzugeben braucht und dennoch alle Weisheit der
Welt am Leibe hat. Und schließlich, sehr geehrte Damen und
Herren, liebe Kunstfreunde, vergessen Sie nicht die Treppe
herabzusteigen ins Allerheiligste, in die Krypta. Da finden Sie
ein Tagebuch auf dem Tisch und Engel an der Wand. Dieser
stimmige Klang, das ist es doch was wir brauchen. – |