»Malerische Träume als Dichtung von Welt und Menschen« titelte
ein Artikel im »Südkurier« vom 4.August 1970 über die
Erich-Seidel-Ausstellung zum 75. Geburtstag des Künstlers in
Konstanz.
In der Tat ist damit das Lebenswerk des im Jahre 1895 geborenen
Malers aus dem Vogtland, sehr treffend be- schrieben.
Erst seit 1945, als Fünfzigjähriger also, war er als Maler
freiberuflich tätig, bis zu diesem Zeitpunkt unterrichtete er in
einer Hauptschule in Rabenau bei Dresden. 1950 entdeckte der
bekannte Kunsthistoriker Richard Hamann den Maler Seidel und
holte ihn als Lehrer für die Studenten der Kunstgeschichte an
sein Institut der Humboldt-Universität Berlin. Sich gegen die
Doktrin des sozialistischen Realismus wehrend, verließ er jedoch
1956 die DDR und siedelte sich schließlich in Wallhausen bei
Konstanz am Bodensee an, wo er 1984 verstarb.
Seidels Thema war der Mensch, konkret zwar in seinem Abbild, die
Individualität jedoch abgestreift. Seine Men- schen existieren
jenseits der Zeit in Räumen großer Stille, zu einem anonymen
Typus reduziert, sie wirken unan- tastbar, einsam mitunter.
Selbst bei genreartigen Gesellschaftsszenen scheinen sie zwar
durch das Leben mit- einander verbunden, bleiben aber
letztendlich für sich allein.
Freilich hat er auch Landschaften und Stilleben gemalt, doch war
Seidel, wie er von sich selbst einmal sagte, in seiner Malerei
dem Menschen verfallen.
Die Ausstellung gibt einen Überblick über die verschieden
Schaffensperioden. Sie zeigt Werke zwischen den Jah- ren 1937
bis 1984. In diesen Jahren entwickelte sich Seidels Malerei von
einer bevorzugten geometrischen Ord- nung im Sinne Cézannes, die
Farbflächen akzentuiert gegeneinander gestellt, hin zu einer
sich auflösenden Form. Zögernd treten nun die Figuren aus dem
diffusen Hintergrund hervor, die Umrisse werden unschärfer, der
Farb- auftrag dünner, durchscheinender. Es herrscht ein
verhaltener Ton der Entrücktheit, ein Hauch des Traumhaf- ten,
gar des Verdunstens von Realität in diesen Bildern.
Seidel wandte sich nun ausschließlich der Ölpinselzeichnung auf
Papier zu, die er in ihrer malerischen Verdichtung geradezu
perfektionierte. Indem er die Ölfarbe stark verdünnte, erhielt
er eine tuscheähnliche Flüssigkeit, die sich schnell und leicht
vermalen ließ und dennoch jene spezifische Charakteristika des
Malmittels bewahrte, wie den Glanz und die Lasur. Im
Übereinanderlegen mehrerer Farbschichten erzielte Seidel
mehrdeutige Färbungen, die auf der Palette nicht zu mischen
gewesen wären. Damit erzeugte er jenen geheimen Dämmerzustand,
jene diffuse Räumlichkeit.
Im Spätwerk wird Seidel zunehmender abstrakter, ohne aber
gegenstandslos zu werden. Die Entkörperlichung der schemenhaft
auftauchenden Gestalten nährt nun ausschließlich die
Verinnerlichung. Die Bildschöpfungen er- scheinen gedämpft und
erleuchtet zugleich. Sie neigen zur Monochromie und enthalten
dennoch reiche farbige Werte.
Erich Seidel war als Maler Autodidakt. Systematisch beschäftigte
er sich mit den Grundlagen bildnerischen Ge- staltens, mit
Kompositions- und Farblehre, entdeckte für sich, was
künstlerisch arbeiten heißt, fand seine eige- nen Möglichkeiten
einer künstlerischen Logik. Als Lehrer an der
Humboldt-Universität konnte er diese Erfahrungen an die
Studenten der Kunstgeschichte weiter geben.
Der allgemein anerkannte Spezialist für das Werk Rembrandts,
Prof. Dr. Werner Sumowski, der in den 50er Jahren bei Erich
Seidel Unterricht hatte, schrieb über ihn im Katalog zur
Ausstellung »Erich Seidel. Malerei und Zeich- nung« im
Rosengartenmuseum in Konstanz 1995: »Während Erich Seidel
zeichnete, während er auswog und bemaß, erläuterte er uns Sinn
und Notwendigkeit jeder seiner formalen Entscheidungen. ... Uns
gingen die Kon- sequenzen auf, die sich aus dem ersten Strich
auf der Fläche ergaben. Bildnerische Logik wurde uns zum Begriff
an Seidels Improvisationen, die sich als künstlerische
Meditationen erwiesen.«
Einen »Grandseigneur der Malerei« nannte ihn der »Südkurier«
1975 anlässlich der Überlinger Ausstellung. Allerdings blieb
sein Werk weithin unbekannt, außerhalb seiner Region jedenfalls.
In Berlin (West) gab es nur 1984 in der Galerie Dorsch einmal
eine Ausstellung der Malerei von Erich Seidel.
Doch schon im Jahre 1950 hatte eine der wenigen privaten
Galerien in der DDR, die Galerie Henning in Halle, die sich in
den 50er Jahren im Widerstand zur offiziellen Kulturpolitik der
Pflege der klassischen Moderne und ihrer Nachfolger widmete,
ähnlich wie die Galerie Rose in Berlin (West), eine Ausstellung
mit Werken von Erich Seidel veranstaltet. Ende der 50er Jahre
musste die Galerie Henning dann schließen.
Weitere Aufmerksamkeit fanden aber seine Werke in
Süddeutschland, Österreich und der Schweiz.
Aus Anlass seines 110. Geburtstages zeigt nun die Galerie am
Gendarmenmarkt zum zweiten Mal in Berlin Werke des Malers aus
dem Vogtland. |